Rituale sind wie eine Halteschnur
Es ist früher Nachmittag als einige Bewohnerinnen und Bewohner des Caritas-Seniorenzentrums St. Johannes in Dallgow in den Gemeinschaftsraum kommen. Hier findet der Gottesdienst von Maria Selent, Seelsorgerin im St. Johannes, statt. Die Bewohner finden sich in einem halben Stuhlkreis zusammen, vor ihnen steht ein Altartisch, der frühlingshaft mit Schokohasen und -eiern, Filzfiguren, Stoffblumen, Schmetterlingen und Kerzen geschmückt ist - in der Mitte das Kreuz, die Osterkerze und die Heilige Schrift.
Nach der persönlichen Begrüßung jedes Einzelnen eröffnet die Seelsorgerin mit dem Kreuzzeichen und einigen einleitenden Worten den Gottesdienst. Sie beginnt - in Begleitung von Orgelmusik, die sie auf dem Keyboard spielt - ein Lied aus dem Gottlob zu singen. Einige Bewohner summen leise die Melodie des Liedes mit und schauen sie dabei lächelnd an. Dies ist kein einfacher Wortgottesdienst wie man ihn aus der Kirche kennt. Es ist ein Gottesdienst speziell für Menschen mit Demenz.
Nachdem Maria Selent 2008 - neben ihrer Tätigkeit als Gemeindereferentin - den Dienst als Seelsorgerin im St. Johannes aufnahm, führte sie ein Jahr später den ersten Gottesdienst für demenziell veränderte Menschen durch. "Die damalige Leiterin des Sozialen Dienstes kam mit der Bitte auf mich zu, Gottesdienste für Menschen mit Demenz anzubieten", erzählt sie, "und aufgrund meiner langjährigen Gemeindearbeit stellte ich mich gerne dieser Herausforderung." Der Gottesdienst wird meist von rund zehn Bewohnern besucht, was optimal ist, um auf jeden individuell einzugehen. Ein schriftliches Konzept hat die Seelsorgerin nur selten, da sich der Rahmen meist selbstständig entwickelt. "Mit den Jahren und vor allem in der Interaktion habe ich meine Erfahrungen gemacht. Manchmal begegnet mir ein Bewohner impulsiv, ein anderes Mal ist dieser in sich gekehrt. Es ist sehr wichtig, aufmerksam zu beobachten und die Stimmung jedes Einzelnen zu berücksichtigen."
Ostern und die Auferstehung Jesu Christi sind dieses Mal Thema im Gottesdienst. Die Seelsorgerin geht zum Altartisch, nimmt ein kleines Körbchen mit Grashalmen in die Hand und geht im Teilnehmerkreis umher: "Erinnern Sie sich noch an die Weizenkörner, die ich bei unserem letzten Gottesdienst eingepflanzt habe? Sie sind nun gewachsen." Sie lässt die Weizenhalme von den Seniorinnen und Senioren anfassen. Manch einem führt sie die Hände zu den Halmen. Ein Bewohner äußert: "Die Halme sind sehr groß geworden." Maria Selent nimmt nach und nach einzelne Utensilien vom Altartisch. Sie zeigt die Osterkerze und erklärt die Buchstaben Alpha und Omega darauf. Mit Hilfe des Schokohasen verdeutlicht sie die Bedeutung des "Osterhasen", der für Fruchtbarkeit und neues Leben steht. "Ich erinnere mich, dass meine Kaninchen damals auch viele Kinder bekommen haben", erwähnt eine Seniorin lachend.
Viele der Bewohner, die an den Gottesdiensten teilnehmen, haben bereits eine sehr fortgeschrittene Demenz. Der Gottesdienst ist daher eine Mischung aus einem Wortgottesdienst und interaktiver Beteiligung der Besucher. Er regt Sinne an, weckt Erinnerungen und ermöglicht eine spirituelle Entfaltung. "Jeder Gottesdienst ist anders. Ich bin sehr bemüht, die Bewohnerinnen und Bewohner ,bei mir‘ zu halten. Das erreiche ich, in dem ich auf sie eingehe, die Sinne aktiviere und einen Rahmen für den Gottesdienst schaffe, wo sie mitmachen können", beschreibt die Seelsorgerin.
Ein Senior ist sehr unruhig. Maria Selent nimmt immer wieder seine Hand. "Wenn ich innere Unruhen bei jemanden bemerke, ist mir wichtig, dass ich mit ihm in Kontakt bleibe, und versuche, ihn wieder abzuholen."
Sie fährt mit dem Rezitieren des Psalms 118 fort: "Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich…" Die Auferstehungsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium liest sie aus einer großen roten A3-Bibel vor, die von den Anwesenden besser wahrgenommen wird. Einige Gesichter sehen beim Vorlesen konzentriert auf die Seelsorgerin. Beim anschließenden Fürbittengebet und Vaterunser falten ein paar Seniorinnen ihre Hände.
Es gibt zahlreiche Arbeitsbücher, Konzepte und mehrseitige Exposés zur Gestaltung von Gottesdiensten, um die Arbeit mit demenziell veränderten Menschen zu unterstützen. Die Katholischen und Evangelischen Landeskirchen bieten auf ihren Internetseiten hilfreiche Tipps und zahlreiche Beispiele an, wie man Menschen mit Demenz stärker einbeziehen kann. Solche besonderen Gottesdienste werden daher immer häufiger angeboten.
Wie wertvoll Rituale im Alltag sind
Das "Warum" kann mit der Bedeutung eines "Rituals" erklärt werden. Es sind Gewohnheiten, feste Abläufe und bekannte Reihenfolgen mit einem bestimmten Symbolgehalt, die meist nicht so schnell vergessen werden, die an etwas Vergangenes erinnern und die gleichzeitig Sicherheit und Orientierung geben. Ein "Guten Morgen" mit Händeschütteln, wenn der Pfleger morgens ins Zimmer tritt, das Essen zu den gleichen Uhrzeiten oder am Nachmittag eine bestimmte Aktivität. Ähnlich hält es sich mit einzelnen Ritualen im Gottesdienst. Gerade für christliche Menschen sind dies vertraute Handlungen, die in einer "früheren" Zeit mal bedeutend für sie waren. Seien es Gebete am Morgen und Abend, das Singen von bekannten Kirchenliedern, das Sprechen vom Vaterunser oder das Erhalten des Segens.
"Rituale sind für viele unserer Bewohner im Alltag sehr wichtig, es ist das Festhalten können an Dingen, die man selbst einmal regelmäßig getan hat. Anders gesagt sind Rituale oft wie eine Halteschnur, an denen man sich hochziehen kann, die einem Sicherheit geben", veranschaulicht die Seelsorgerin.
Der Gottesdienst neigt sich langsam mit "Großer Gott, wir loben dich" dem Ende zu. Zum Schluss erhält jeder Bewohner von Maria Selent den Segen auf die Stirn und der Gottesdienst ist beendet.
"Im Anschluss trinken wir alle zusammen Kaffee und essen Kuchen. Auch ein Ritual, das sich seit drei Jahren zu einer Tradition entwickelt hat, die allen gefällt", erklärt sie.