Auf den geschulten Blick kommt es an
Montagmorgen, 6:15 Uhr - Krankenschwester Janett Graske steigt mit einem dicken roten Ordner unter dem Arm in ihr Auto und macht sich auf den Weg. Darin enthalten sind die Unterlagen ihrer Klienten und eine Fülle an Informationsmaterialien. Sie arbeitet bei der Caritas-Sozialstation Kreuzberg in der Krankenpflege und ist gleichzeitig als zertifizierte Pflegefachberaterin unterwegs. Heute besucht sie sieben Beratungskunden, darunter hauptsächlich Senioren, die von einem Angehörigen gepflegt werden. In den frühen Morgenstunden zwischen halb sieben und halb acht berät sie zudem häufig Familien mit pflegebedürftigen Kindern oder jungen Erwachsenen.
Nach § 37 (3) SGB XI zur Beratung verpflichtet
So auch Osman. Um sieben Uhr führe er zur Arbeit, sagt Osman. Deshalb klingelt Janett Graske bei ihm und seiner Mutter schon um 6:30 Uhr. Osman leidet unter Trisomie, eine Form des Down-Syndroms. Er hat Pflegestufe zwei und wird von seiner Mutter gepflegt. Von der Pflegekasse erhält der 32-Jährige 440 Euro Pflegegeld. Dafür hat er nach § 37 (3) SGB XI die Verpflichtung, halbjährlich bei der Pflegekasse durch die Beratung einer Pflegefachkraft nachzuweisen, dass er von einer Pflegeperson angemessen versorgt wird. "Guten Morgen", hallt es leise durch die eiskalte Morgenluft. Osmans Mutter begrüßt die Krankenschwester bereits durch das geöffnete Fenster der Erdgeschosswohnung. Im Wohnzimmer angekommen fragt die Besucherin Osman gleich, wie es ihm geht. In den letzten Tagen nicht so gut, sagt er, Kopfschmerzen habe er gehabt und der Bauch hätte ihm wehgetan. Die Kommunikation mit der türkischen Familie ist mühsam. Nur wenige deutsche Worte sind bekannt und so muss die junge Frau aus dem türkisch-deutschen Sprachgewirr die relevanten Informationen heraushören. Janett Graske vermerkt auf dem Formblatt zur Bestätigung Ihres Besuches, dass die pflegerische Versorgung unverändert erforderlich ist und durch die Mutter sichergestellt wird. Mit aufmerksamem Blick hat sie die aufgeräumte Wohnung sowie das liebevolle Verhältnis von Mutter und Sohn registriert. Auch dass der junge Mann vieles eigenständig tun möchte. Hier braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Osman ist bei seiner Familie in guten Händen.
Das richtige Maß an Information ist das Geheimnis
Weiter geht es zum Kottbusser Tor. Eine kleine Suchaktion im Dunkeln, bis die richtige Hausnummer gefunden ist. Mittlerweile hat es angefangen zu schneien. Den 10-jährigen Mohammed und seine arabische Familie besucht Janett Graske zum ersten Mal. Der Junge liegt hinter der altersgerechten Entwicklung zurück. Schwierigkeiten in der Schule sind vorprogrammiert. Im Gespräch filtert sie einfühlsam den Hilfebedarf heraus und gibt der Familie ein ganzes Paket Empfehlungen an die Hand. Darunter auch ein Formular zur Beantragung von Pflegehilfsmitteln. "Die große Kunst ist, genug Informationen zu geben, damit die Betroffenen wissen, wo sie Hilfe finden können, aber sie gleichzeitig auch nicht durch ein Zuviel zu überfordern", erklärt sie mit großem Ernst. Eigentlich müsse man für Mohammed einen Schulwechsel empfehlen. Das könne sie aber beim Erstbesuch noch nicht ansprechen.
Beratung zu hilfreichen Zusatzleistungen der Pflegekasse
Draußen ist es hell geworden. Der nächste Beratungskunde ist Bernd W., 66 Jahre alt. Ihn kennt die Krankenpflegerin schon seit vielen Jahren und seit rund neun Monaten kommen die Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialstation auch zur Medikamentengabe zu ihm. Der Senior ist Diabetiker und hat die Pflegestufe eins. Auf seinem vereisten Balkon hat er sich vor Kurzem das Bein gebrochen. Sein Sohn und ein enger Bekannter kümmern sich um ihn. Am Schwierigsten ist es sicherzustellen, dass regelmäßig jemand da ist. Schwester Janett rät Bernd W. zu einer stundenweisen Verhinderungspflege. Gerade jetzt wo er nicht laufen könne, könnten so Einkäufe für ihn erledigt oder die Wohnung gereinigt werden - insbesondere wenn der Sohn oder der Bekannte mal keine Zeit haben. Dies sei eine Zusatzleistung der Pflegekasse und würde nicht von seinem Pflegegeld abgezogen werden. Darüber wolle er nachdenken. Er berichtet, bei der Pflegekasse einen Rollstuhl beantragt zu haben, hätte aber bisher noch nichts gehört. Die hilfsbereite Krankenschwester bietet ihm an, dort nachzuhaken. Nachdem noch weitere offene Fragen geklärt werden, verabschiedet sich Janett Graske mit der Ankündigung, ihn im Juli wieder zu besuchen. Sollte er vorher dringend Hilfe benötigen, solle er sich bitte bei ihr melden. "Tschüß, mein kleiner Engel", verabschiedet sich Bernd W. dankbar bei Schwester "Jessi", wie er sie nennt.
Manchmal macht ein Umzug Sinn
Für den Besuch der nächsten Beratungskundin ist erstmal Sport angesagt. Mitten im Wrangelkiez führt der Weg in einen Altbau, vier Treppen ohne Fahrstuhl. Genau das bereitet Janett Graske auch Sorgen. Sie weiß, dass die 82-jährige Gisela P. bei jedem Besuch ein wenig mehr abgebaut hat. Ihre erste Frage ist dann auch gleich, ob sie die Treppen noch bewältigen kann. "Ich gehe nur noch selten runter", antwortet die zurückhaltende Kreuzbergerin mit dem gewellten grauen Haar. Ein Problem, welches der Krankenschwester nur allzu bekannt ist. Viele Berliner Senioren leben Jahrzehnte in ihrer Wohnung und können sich nicht vorstellen, die vertrauten vier Wände und ihren Kiez zu verlassen. Manche sind irgendwann regelrecht in ihrer Wohnung gefangen, weil sie die vielen Treppen der typischen Altbauhäuser nicht mehr schaffen. Ob sie ihr mal Adressen von Seniorenwohnhäusern mitbringen solle, bietet die Krankenschwester an. In dem geräumigen Wohnzimmer von Frau P. fühlt man sich in die sechziger Jahre zurückversetzt. Dem fachkundigen Blick der Pflegerin fällt das leichte Zittern der Hände ihrer Klientin auf. Ihr gehe es nicht so gut. Der Arzt habe ihr neue Medikamente verschrieben. Die Krankenschwester wirft einen prüfenden Blick darauf. "Da passen Sie aber bitte auf, dass Sie nicht zu schläfrig werden. Kann schnell passieren, dass Sie dann stürzen." Sie sei erst neulich Nacht auf dem Weg zur Toilette gestolpert. "Wollen Sie sich dann von Ihrem Doktor nicht einen Toilettenstuhl verschreiben lassen? Dann ist der Weg nachts nicht so weit." Janett Graske nimmt das als Empfehlung in dem Formular an die Pflegekasse auf. Als sie hört, dass die Seniorin sich hauptsächlich von Fertiggerichten ernährt, empfiehlt sie ihr noch den Fahrbaren Mittagstisch. Sie hätte selbst schon einmal Probe gegessen und die Qualität sei wirklich gut. "Der Fahrer bringt Ihnen das heiße Essen sogar die vier Treppen nach oben." Mit der Ankündigung, Gisela P. im Juli wieder aufzusuchen, verabschiedet sich die Krankenschwester. "Ich vermisse Sie jetzt schon", sagt die Seniorin und lächelt der jungen Frau nach.
Aus Misstrauen wird schnell ein vertrauensvoller Kontakt
"Wenn ich zum ersten Mal zu einem Beratungskunden gehe, schlägt mir oft Misstrauen entgegen. Viele denken, dass ich Ihnen im Auftrag der Pflegekasse das Pflegegeld wegnehmen will." Das läge aber gar nicht in ihrem Ermessen. Ihr sei wichtig zu sehen, dass der Pflegebedürftige gut versorgt wird und dass er in einem Umfeld lebe, das eine gute Pflege ermögliche. Wenn es da Möglichkeiten der Verbesserung gäbe, spräche sie Empfehlungen an die Kunden aus und informiere auch die Kasse hierüber. Schnell würden die Leute dann merken, dass sie ihnen wirklich helfen wolle. "Ich kann ihre Welt zwar nicht verbessern, aber ich kann ihnen vielleicht manches erleichtern. Dafür arbeite ich." Mit diesen Worten steigt die sympathische Frau in ihren Smart und fährt zum nächsten Beratungskunden.
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