Auf der Schwelle - Geschichten zum Abschiednehmen
Unser Leben ist geprägt von solcherlei Ritualen, von Bräuchen, von Gewohnheiten, die uns helfen unsere Lebenswelt zu verstehen, uns Struktur geben, zwischenmenschliche Bindungen stärken und unterstreichen, was uns wertvoll ist. Wann immer unser Leben Geschichten schreibt, die wir später gern erzählen, um uns zurück zu erinnern, gehen sie einher mit besonderen Gesten, die ihre ganz eigene Sprache sprechen. So wie wir aus unserer Kindheit oftmals viele Erzählungen kennen, so gibt es auch Begebenheiten, die nicht in erster Linie das Leben, sondern vielmehr das Sterben erzählt. Es sind Erlebnisse des Abschieds, die von den Menschen erzählt werden können, die andere begleitet haben auf ihrem Weg über die Schwelle des Lebens, hinein in eine unbekannte Wirklichkeit.
Die Sprache des Herzens
In Senioreneinrichtungen wie denen, der Caritas Altenhilfe, machen Angehörige und Mitarbeiter naturgemäß immer wieder solche Erfahrungen. Jana Maier, Pflegedienstleiterin in unserem Seniorenheim St. Kamillus, erinnert eine solche Begebenheit. Einst lag eine Bewohnerin im Sterben. Ihr Mann war an Demenz erkrankt und wohnte noch in der eigenen Wohnung. Seit langem konnte er diese schon nicht mehr verlassen. In diesem Moment, indem der Lebensübergang seiner Frau kurz bevorstand, schafften es Angehörige und Mitarbeiter mit vereinten Kräften ein letztes Beisammensein der Eheleute möglich zu machen. Die Demenz des Mannes hielt seinen Verstand vielleicht davon ab zu begreifen, welche Tragweite dieser Moment hatte, aber es war ein Augenblick in dem die Sprache des Herzens vorherrschte.
Beide hielten sich die Hände, vereint in der Traurigkeit, den Tränen und vermutlich in Dankbarkeit über die geschenkte gemeinsame Zeit. "Wer stirbt, fokussiert sich mehr und mehr auf das Wesentliche. Da haben Lebensbeginn und Lebensende eine große Ähnlichkeit." berichtet Kathrin Ohm, Referentin im Qualitätsmanagement. Was aber ist "das Wesentliche"? - eine Frage, die sicherlich nur sehr persönlich beantwortet werden kann. Wie im Leben, so werden auch im Sterben die Prioritäten unterschiedlich gesetzt. Simone Krienke- Schäfer, Pflegedienstleiterin, im Seniorenzentrum St. Elisabeth in Velten erzählt: "Wenn jemand im Sterben nicht loslassen kann, fragen wir uns, 'Was hält dort fest? Was können wir tun, damit der Sterbende beruhigt gehen kann?' Manchmal fehlt einfach noch jemand, von dem Abschied genommen werden muss."
Rituale zum Abschied
Die Geschichte eines sterbenden Bewohners ist Kathrin Ohm im Gedächtnis geblieben. Seine Söhne waren gekommen, um ihn zu begleiten. Sie saßen an seinem Bett, in Achtsamkeit, in Zuwendung, doch die Zeit verstrich. Der Sterbeweg dieses Mannes zog sich hin. Die Söhne bekamen das Gefühl, es wäre noch Zeit und sie begannen am Bett des Vaters miteinander Karten zu spielen, wie es bei ihnen ein bekanntes Ritual von geschwisterlicher Gemeinschaft war. Irgendwann stellten sie fest, dass der Vater in ihrem Beisein gestorben war. Es waren gemischte Gefühle, die aufkamen - 'Jetzt haben wir ihn im entscheidenden Moment nicht begleitet.' Doch die Mitarbeiter konnten die Brüder bestärken, dass genau dieses Wissen um ihre geschwisterliche Einheit für den Vater von ganz wesentlicher Bedeutung war. Unsere Auszubildende Gabriele Kostic begleitete einst eine Kundin in der ambulanten Pflege, als sich während ihres Einsatzes abzeichnete, dass ihr Lebensübergang kurz bevorstand. "Ich empfand es als ein Geschenk, ihre Hand halten zu können, während sie ihren letzten Atemzug tat und bilde mir ein, dass sie es spürte nicht allein gewesen zu sein." In diesen Augenblicken auf der Schwelle zwischen Leben und Tod nimmt Simone Krienke-Schäfer immer eine besondere Atmosphäre war: "Auch, wenn das Leben seinen Gang geht und jeder den eigenen Kopf voll hat, so nimmt sich jeder in diesen Momenten des Sterbens raus, um bewusst den Abschied mitzugestalten." Die Ansprache der Sinne, zum Beispiel durch eine vertraute Musik, die gewohnte Umgebung, das Gespräch mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger, die offenen Baustellen im familiären Beziehungsgeflecht - Oft wissen wir voneinander nicht, was uns das Wesentliche ist. Manchmal gibt es auf dem Sterbeweg die Gelegenheit darüber ins Gespräch zu kommen. In vielen Fällen ist dies jedoch nicht möglich. Die Geschichten, die das Sterben schreibt, können uns ermutigen, schon im Leben zu teilen, was uns wichtig ist. Am Lebensübergang wird dieses Wissen um einander zum Schatz, der den Abschied entscheidend prägen kann. Abschiednehmen geht über den Tod hinaus. Auch dann noch begegnen uns die kleinen Gesten und Rituale. Eine brennende Kerze, vielleicht ein Kreuz oder Rosenkranz in den gefalteten Händen des Verstorbenen. Mögliche Geräte werden entfernt oder die Uhr angehalten.
"Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lasst uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet.", heißt es in einem Lied Dietrich Bonhoeffers. Als Christen verharren wir nicht in dieser Totenstille. Die Welt erweitert sich, wir heben den Blick über den Tod, über den Karfreitag hinaus auf das Osterfest. So wie Jesus Christus den Tod überwunden hat und auferstanden ist, so dürfen auch wir auf ein ewiges Leben nach dem Tod hoffen. Das ist die Zusage, die Gott uns an Ostern gibt. So betrachtet ist das Traurigsein des Abschieds, wie Paula Modersohn-Becker es in Worte fasst, "ein Atemholen zur Freude. Eine Vorbereitung der Seele dazu."
Wenn der Körper des Verstorbenen unsere Einrichtung im Sarg verlässt, wird er am Eingang verabschiedet von Angehörigen, Mitbewohnern und Mitarbeitern - Gemeinschaft entsteht, es bleiben die Geschichten aus dem Leben, aber auch jene, aus dem Sterben. Hier auf der Türschwelle beim Läuten der Glocken heißt es nun wieder "Tschüss, bis später!", "Du fehlst mir jetzt schon!", "Vergiss mich nicht!" oder "Auf Wiedersehen!".